Dieses doch etwas unscheinbare Sachbuch mit seinem schlichten Cover aus der Reihe Systemische Horizonte und des Themas Philosophie/Systemtheorie/Gesellschaft hat mich in meinen Überlegungen über unsere Gesellschaft und auch meine persönliche Welt weitergebracht wie schon länger kein anderes Buch. Durch die historische Betrachtungen unserer westlichen Welt seit dem frühen Mittelalter offenbart der Autor überzeugend warum unserer Weltsicht so ist wie sie heute ist und welche Entwicklungsmöglichkeiten und Potentiale es gibt.
Wilhelm Rotthaus hätte auch ein Buch ausschließlich mit Visionen und Ideen für die Zukunft schreiben können. Solch ein Text wäre für Nicht-Historiker sicher eingängiger und doch unternimmt er ausführliche historische Betrachtungen. Weil es wichtig ist zu verstehen woher man kommt,,um zu wissen, wohin man gehen kann.
„Dieser Blick zurück soll deutlich machen, dass unser heutiges Menschenbild und die Art, wie wir die Dinge betrachten, wie wir Raum und Zeit verstehen, die materiellen Güter verteilen, die Wirtschaft und unser Rechtssystem organisieren, keinesfalls so selbstverständlich sind, dass der Mensch und seine Beziehungen zur Umwelt auch völlig anders gedacht werden kann.“ (S.13)
Im ersten Abschnitt betrachtet Wilhelm Rotthaus das „Selbstbild und Weltbild des europäischen Menschen im Frühmittelalter“ (Kapitelüberschrift) und beleuchtet schon in seinen Vorbemerkungen die Schwierigkeiten die Menschen dieser Zeit zu beschreiben und darzustellen, da neben fehlenden verlässlichen Quellen auch unser Blick auf die Zeit geprägt ist von unserer angeblichen Überlegenheit dank des technischen Fortschritts negativ geprägt ist. Er fordert uns auf diese Zeit vorurteilsfrei zu betrachten und so die positiven Aspekte zu entdecken, z.B. die Naturverbundenheit , das vielfältige Gemeinschaftsleben, der Umgang mit Geld und die Sicht auf Eigentum und die zentrale Rolle der „Harmonie, in der alles menschliche Leben aufgehoben ist.“ (S. 41 oben).
„Das Handeln des Einzelnen ist dem Wohl der Gruppe, der er zugeordnet ist, unterworfen, ebenso wie die Gruppe sich an die Interessen der größeren Gemeinschaft zu orientieren hat.“ (S. 55)
Viele heute populäre und neu scheinende Ideen und Zukunftsvisionen von Vordenkern unserer Zeit wurden bereits bis zum Mittelalter in Europa gelebt und haben gut funktioniert. Das empfand ich beim Lesen sehr beruhigend.
Im zweiten Abschnitt beleuchtet der Autor die Veränderung in vielen Bereichen und ihre Auswirkungen auf den Menschen vor allem unter dem Gesichtspunkt des aufkeimenden Individualitätsdenkens. Vieles, was für uns heute natürlich und selbstverständlich erscheint, entwickelte sich erst seit dem 12 Jahrhundert. Nehmen wir als ein Beispiel das Urheberrecht. Wenn Menschen wie Joost Smiers und Marieke van Schijndel die Abschaffung der Urheberrechtes fordern (Exkurs hier) oder die Piratenpartei mindestens eine Reform, klingt es zunächst wie ich finde absurd. Wenn man sich hin im Buch zusammen mit Wilhelm Rotthaus mit dem Frühmittelalter und dem Gedanken der Gemeinschaft beschäftigt, kommen einem doch am eigenen Weltbild Zweifel. Ebenso kommen Begriffe wie Erziehung, die vorherrschende Sicht auf Tiere und vieles anderen mehr ins ins Wanken.
Und dann sind wir erst bei der Hälfte des Buches und haben noch die beiden Abschnitte „Das Ende des Zeitalters des Individuums“ und „Aufbruch in eine unbekannte Zukunft – Gedanken zu einem zukünftigen Selbst- und Weltbild des Menschen“. Der Autor fordert uns auf selbst Visionen zu entwickeln und zu überlegen, wohin wir als Menschen gehen können. Denn auch das zeigt die Geschichte: die Menschheit hat sich bisher immer in Zeit großer Unsicherheit weiterentwickelt und natürlich bringt jede Weiterentwicklung gute und schlechte Seiten hervor. Nach der Lektüre war ich um einiges schlauer und auch irgendwie verwöhnter mit der Welt.